Visuelle Erzählungen unseres Alltags
Leonhard Wachter

Was macht unsere Realität aus? Nachrichten, Formen, Farben – geprägt von digitalen Reizen und permanenter Bewegung fällt es oft schwer, die Details wahrzunehmen. Sie verschwimmen zu einer flüchtigen Masse, während wir uns durch den Alltag treiben lassen. Leonhard Wachter hält inne. Mit geschärftem Blick beobachtet er urbane Szenen, fragmentierte Momente und Sinneseindrücke, die sich in seiner Kunst verdichten. Seine Werke spiegeln das Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Überforderung wider. Strukturen lösen sich auf, Formen brechen, Flächen verkanten sich. Objekte werden durch malerische Verzerrung verfremdet. Sie sind pixelartig reduziert oder mit einer fast übernatürlichen Farbigkeit aufgeladen. In dieser Synthese eröffnet sich seine Perspektive auf die Welt. Ein zentrales Motiv ist die Gleichzeitigkeit von Eindrücken, die mediale Überflutung, das permanente Flimmern von Informationen. Als Spiegelung unserer Realität begegnen uns die Motive seines Werks in veränderter Form. Die Schablonierung verweist mit dem Titel „Red Flag“ auf eine unheilverkündende Zukunft – einen Blick in die alarmistischen, täglichen Nachrichten. Im Kontrast dazu entfaltet das Gemälde mit dem gleichen Motiv eine unerwartete Ruhe – eine scheinbar idyllische Landschaft, in der wir verweilen wollen, den Moment genießen, unsere Augen blinzelnd in die Sonne halten und dem Meer zuhören. Wachters Bilder wechseln zwischen klaren Formen und flüchtigen Eindrücken, zwischen Intensität und Stille. Sie lassen Bedeutungen entstehen und verschwinden wieder. Was offensichtlich scheint, entzieht sich immer wieder. Durch das Spiel mit Wahrnehmung und Erwartung wird Sehen zu einer bewussten, offenen Erfahrung.

Leonhard Wachter (*1995) begann sein Studium 2018 an der Burg Giebichenstein in Halle-Saale in der Bildhauerklasse von Bruno Raetsch. Diese skulpturale Perspektive zeigt sich insbesondere bei den Figurenkompositionen bis heute. In einer kritischen Phase der zeitgenössischen Kunst entschied er sich für eine Zusage an die malerische Praxis. 2022 wechselte er in die Klasse von Tilo Baumgärtel. Ein konsequenter Schritt, der seine malerische Entwicklung vertiefte. Geprägt ist sein künstlerisches Schaffen bereits seit frühester Kindheit durch sein familiäres Umfeld. Sein Vater, Andreas Wachter, zählt zur Leipziger Schule und führt die Tradition figürlicher Malerei konsequent fort. Nach einem Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und unter dem Einfluss durch seine Lehrer entwickelte er eine eigenständige Bildsprache, die bis heute international Anerkennung findet. Diese Verwurzelung in der Leipziger Maltradition prägt auch Leonhard Wachter. Ebenso einflussreich ist die künstlerische Praxis seiner Mutter, Christiane Wachter. Auch sie studierte an der Burg Giebichenstein und entwickelte eine eigenständige Bildsprache, die Malerei mit Stofflichkeit verbindet. Ihre Offenheit gegenüber Materialien und Techniken hat Leonhard Wachter entscheidend geprägt. Gemeinsam mit einer klassischen Ausbildung, die ihm eine fundierte Kenntnis historischer Maltechniken vermittelt hat, verbindet Leonhard Wachter diese vielschichtigen Einflüsse zu einer eigenständigen künstlerischen Position. Er greift auf Jahrzehnte bewährter Formensprachen zurück, erweitert diese aber konsequent um zeitgenössische Fragestellungen. Dabei bewegt er sich souverän zwischen Tradition und Innovation, zwischen Figuration und Abstraktion. Seine Werke sind nicht nur eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Medium Malerei, sondern auch eine Reflexion über die eigene Herkunft und deren Weiterentwicklung. Regelmäßige nationale und internationale Ausstellungen, oft auch im Austausch mit seiner Familie, bieten fortlaufend die Gelegenheit, diese fortwährende künstlerische Entwicklung zu erfahren.

Leonhard Wachter erzählt uns nicht, was wir wissen müssen. Er gibt keine eindeutige Richtung vor, verweigert oft eine klare Narration. Stattdessen spielt er – mit Farben, mit Material, mit Assoziationen, mit seiner eigenen Geschichte und mit uns. Seine Werke entziehen sich einer festen Lesart, bleiben offen für Interpretation. Immer wieder fordert er den Betrachter heraus, nicht nur zu sehen, sondern wahrzunehmen, eigene Verbindungen herzustellen und sich auf die Vielschichtigkeit seiner Bildwelten einzulassen.

Viktoria Hilsberg



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